Über die technologische Dimension hinaus, wirkt sich die digitale Transformation heute auf die eine oder andere Weise auf fast alle menschlichen Aktivitäten aus – in so unterschiedlichen Bereichen wie Wirtschaft, Soziales, Gesellschaft, Menschliches oder Ökologie.
Das macht sie zu einer Kunstform, denn das digitale Universum trägt eine starke ästhetische sowie künstlerische Dimension in sich.
“Nichts geht verloren, nichts wird geschaffen, alles wandelt sich”, dachte Lavoisier Ende des 18. Jahrhunderts.
Heute könnte man allerdings hinzufügen, dass, wenn nicht alles transformiert wird, auch nichts erschaffen wird. Obwohl Transformation schon immer die offensichtlichste Manifestation der Evolution war, ist dieses Konzept in der digitalen Welt noch zentraler.
War die digitale Transformation bis vor kurzem noch der Höhepunkt der technologiebezogenen Entwicklung, bei der sich Unternehmen voneinander abgrenzten und Marktanteile auf Kosten ihrer Wettbewerber eroberten, ist sie heute zur Voraussetzung für jede produktive Tätigkeit geworden.
In gewisser Weise sind heute alle gleich, wenn es um dieses Thema geht. Bei dieser digitalen Transformation geht es jedoch nicht nur um Veränderungen, bei denen eine Technologie eine andere ersetzt. Um ihr volles Maß zu entfalten und ihre ganze Kraft zum Ausdruck zu bringen, bedarf es vor allem einer Transformation des Denkmusters.
Bevor die digitale Transformation eine technologische Erfahrung wird – und damit sie voll und ganz eine technologische Erfahrung sein kann – muss sie ein Gedankenexperiment sein: Die Digitalisierung ermöglicht es, die Welt anders zu denken (oder sich anders vorzustellen).
In der Wahrnehmung dessen, was die digitale Transformation wirklich ist, und vor allem der Macht, zu der sie fähig ist, zeichnet sich heute ab, was den Unterschied – und damit den Erfolg – zwischen zwei Unternehmen ausmacht.
Menschliche Aktivitäten
Bei dieser Erkenntnis geht es vor allem darum, die vielen verschiedenen Ebenen der digitalen Transformation und deren Interaktion zwischen all diesen Ebenen zu verstehen.
Es geht darum, das Ausmaß dieser gigantischen Bewegung zu erfassen, die die geringsten menschlichen Interaktionen rund um die digitalen Technologien neu definiert und damit eine schier unüberschaubare Anzahl von Konsequenzen mit sich bringt.
Diese, oben genannte Bewegung, nimmt zwei Hauptformen an.
Da ist nicht nur die globale Seite, die von der Digitalisierung eingenommen wird (die Auswirkungen digitaler Technologien und Innovationen überall auf dem Planeten); sondern auch die Tatsache, dass heute global über Digitalisierung gedacht wird.
Weltanschauungen werden heute im und durch den digitalen Wandel geprägt. Sie betrifft fast ausnahmslos die vielfältigen Dimensionen der menschlichen Erfahrung in der Gesellschaft. Hinter dem Technologischen beeinflusst sie sowohl auch das Wirtschaftliche, das Soziale, das Gesellschaftliche, das Menschliche und nicht zuletzt das Ökologische. Dieser Wandel und die durch ihm zum Ausdruck kommende Innovation haben heute entscheidende, globale Auswirkungen in jedem dieser fünf Bereiche.
Ihr Zuständigkeitsbereich ist umfassend und ihr Einsatzgebiet global. Man kann sie aus diesem Grund daher als Gesamtkunstwerk bezeichnen.
Kunst / Ars
Kunst wurde seit jeher mit Techniken und Fertigkeiten in Verbindung gebracht.
Tatsächlich stammt “Kunst” vom lateinischen “ars” ab, dessen Bedeutung die des Handwerks, des Talents, des technischen Wissens und der Beherrschung von Fertigkeiten in vielfältigen Bereichen ist. Nach zahlreichen Variationen hat es seit dem 18. und 19. Jahrhundert die Bedeutung angenommen, die wir heute für die Schaffung von Werken kennen: das Schöne, das Ästhetische oder das Disruptive.
Die Bedeutung des Wortes hat sich also vom Mittel zur Erlangung des Werkes, das es ursprünglich hatte, bis zum erzielten Endergebnis, das es heute angenommen hat, entwickelt.
Der Begriff “Kunst” wird immer noch häufig verwendet, um die Fähigkeit einer Person bzw. dessen Kompetenz oder einer Methode zu bezeichnen. Man spricht dann von einer Fertigkeit, wie z. B. wenn man von der Kunst der Konversation spricht.
Im Zusammenhang mit der Digitalisierung von Kunst zu sprechen, ist jedoch nicht nur ein Stilmittel. Das Digitale ist umso mehr eine Kunst, als es in sich selbst eine ästhetische Dimension enthält: diejenige, die die Schaffung von Schnittstellen (also visuellen) erfordert, um genutzt werden zu können.
Das Digitale braucht die Kunst, um wahrgenommen zu werden: Eine Zeile Code ist nicht überzeugend, nicht einmal aneignungsfähig (sie hat keine Form), wo eine grafische Benutzeroberfläche (die doch nichts anderes ist als eine Formgebung der Codezeile) vollkommen wirksam ist.
Das Geniale von z.B. Apple in dieser Hinsicht ist, dass es dies in den 80er Jahren mit dem Macintosh vor allen anderen verstanden hat.
Entgegen dem damaligen Ruf war der Macintosh kein Computer nur für Kreative, sondern ein Computer, der in der Lage war, Kreativität in jeder Branche zu fördern. Die Verbreitung der digitalen Technologie in allen Tätigkeitsfeldern setzte voraus, dass jeder, auch Nicht-IT-Spezialisten, an sie anknüpfen konnte.
Grafische Benutzeroberflächen, also Ästhetik, waren das Mittel dieser Eroberung und Demokratisierung. Übrigens ist fast ein Viertel der digitalen Berufe mit dem Künstlerischen, dem Design, verbunden.
Die Digitalisierung wird also auf zentrale Weise von der Ästhetik geprägt. Das geht so weit, dass sich beispielsweise mit NFT, spezifische Kunstformen für die digitale Welt gebildet haben. Die Digitalisierung hat also eine neue Kunstform ermöglicht.
Diese technologische Revolution hat demnach einen allgemeinen Wunsch nach Kreativität geweckt.
Die Möglichkeiten, die sie bietet sind nicht nur für Künstler und Kreative eine Herausforderung, sondern für alle Berufsgruppen, die gezwungen sind, auf ihre eigene Weise innovativ zu sein.
In dieser Hinsicht ist das Konzept des “Designs” einer der besten Marker für die “künstlerische” Dimension der Digitalisierung. Er ist aus seiner kreativen Nische (die Form von Industrieobjekten) herausgetreten, um – insbesondere mit dem Begriff Design Thinking – ein Element zu benennen, das sich auf Prozesse und Organisationsformen bezieht, die nun ebenfalls Kreativität zeigen müssen.
So ist die digitale Transformation also mehr eine Gesamtkunst, als sie die beiden historischen Bedeutungen, die der Begriff “Kunst” abdeckt, in sich vereint.
Eine ihrer Schönheiten besteht darin, dass sie eine originelle Synthese zwischen den beiden historischen Definitionen von Kunst geschaffen hat, die sich scheinbar gegenseitig ausschließen: das Schöne und die Technik/das Know-how.
Erschaffen Sie Ihre eigene Welt
Mit der Digitalisierung der Welt ist das Digitale zu einer Welt geworden; oder genauer gesagt, es ist zum Äquivalent der Welt geworden.
Durch virtuelle Welten, Metaversen, Avatare usw. kann sich jeder seine eigene Welt und seine eigene Beziehung zur Welt schaffen. In manchen Fällen sogar so sehr, dass es zu pathologischen Zuständen kommen kann, weil man sich in den digitalen Welten, die ebenso viele Parallelwelten bilden, einschließt.
Doch auch wenn jeder seine eigene Welt erschaffen kann, sollte man nicht vergessen, dass diese Erschaffung auf der Verwendung einer universellen Technologie beruht: der Technologie, die jedem zur Verfügung steht. Jeder sollte sich bewusst machen, dass seine Welt, so einzigartig sie auch sein mag, durch die gleiche Technologie für alle läuft.
Dies schafft eine neue Mischung aus Einzigartigkeit und Universalität, wie es sie in der Geschichte der Menschheit noch nie zuvor gegeben hat. Low-Code-No-Code wird diese Singularität/Universalität noch verstärken, indem es die Schaffung aller Arten von digitalen Objekten durch Nicht-Codier-Spezialisten fördert.
Diese Nicht-Dualität (gleichzeitig vollkommen singulär und vollkommen universell zu sein) ist eine der faszinierendsten Eigenschaften des digitalen Universums und erklärt zweifellos die Geschwindigkeit, mit der es die Welt erobert.
Total, nicht totalitär
Die digitale Welt ist eine neue Grenze in dem Sinne, dass sie eine Porosität zwischen ehemals getrennten Welten einführt – Berufswelten, die nicht miteinander sprechen können, weil sie sich nicht verstehen und sie durch die Spezifität ihrer Sprachen und zur Verteidigung ihres Know-hows abgedichtet sind.
Die digitale Welt ist heute eine gemeinsame Sprache aller menschlichen Aktivitäten. Somit ist sie ein Universum, das die Verbindung von Welten ermöglicht.
Das Digitale deckt sowohl oberflächliche, recht wenig intellektualisierte Themen (die “Unterhaltungsseite”) als auch Themen von großer intellektueller Tiefe (Grundlagenforschung) ab.
Aus diesem Grund ist die Akzeptanz eine Schlüsseldimension: Eine Transformation ist nutzlos, wenn sie nicht angenommen wird. Können wir heute in unserem persönlichen und beruflichen Leben auf die Digitalisierung verzichten?
Es scheint, dass dies nicht der Fall ist. Dennoch bedeutet die Tatsache, dass man nicht anders kann, eine vollständige Akzeptanz. Man kann Digitalisierung annehmen, indem man sie erduldet. Das ist das ganze Problem der Zwangsläufigkeit: Dass man nicht darum herumkommt, bedeutet noch lange nicht, dass man damit einverstanden oder glücklich damit ist, dass es die Beziehung zu anderen oder die Beziehung zur Welt verbessert.
Es gibt natürlich einen Nutzen des Fortschritts, aber er muss einerseits wahrgenommen und andererseits auch mitgetragen werden. Hier liegt eine echte gesellschaftliche Herausforderung vor, Innovation und digitale Transformation haben nur dann einen Sinn, wenn sie zum Gemeinwohl beitragen.
Für die meisten Menschen ist die digitale Welt eine Technologie, zu der sie keinen Zugang haben: Sie nutzen sie, haben aber keine Ahnung, wie sie funktioniert, geschweige denn, was die großen Prinzipien der digitalen Welt sind (binäre Codierung usw.).
Da die Neudefinition vor allem eine mentale Sache ist, ist die Pädagogik daher von entscheidender Bedeutung. Nur sie ermöglicht die Übernahme von Verantwortung. Pädagogische Begleitung muss eingesetzt werden, um das Verständnis für die komplexen Herausforderungen der digitalen Innovation und Transformation zu ermöglichen und so ihre Annahme bzw. Akzeptanz zu fördern.
Auf diese Weise würde man den Menschen ein anderes Verhältnis zu dieser Welt und ihren Werkzeugen bieten, die heute überall und ständig präsent sind. Man würde also einen wichtigen zivilisatorischen Akt in dem Sinne vollziehen, dass die digitale Transformation nicht mehr passiv erlitten, sondern begleitet wird. Auch hier gibt es eine, im Wesentlichen politische Funktion der digitalen Transformation. Und damit auch eine wesentliche Stellung der Politik in dieser Frage.
Daher die große Rolle der Bildung – also des Bildungswesens -, um die Akzeptanz zu fördern, aber auch die kritischen Funktionen zu schärfen, und das bereits in den Sekundarklassen. Wenn man dem Phänomen der digitalen Transformation eine Logik der Verantwortung zuordnet, bringt man diese in eine Position, in der sie unterstützt, aber auch hinterfragt werden kann, insbesondere unter dem Gesichtspunkt möglicher Grenzen, die ihr auferlegt werden müssen.
Diese Überlegungen zur Verantwortung für Innovationen müssen von der Politik und den Nutzern, aber auch von den Innovatoren selbst geteilt werden. Die Innovatoren müssen die Verantwortung für die Abschätzung der sozialen, wirtschaftlichen, menschlichen oder ökologischen Folgen der von ihnen hervorgebrachten Fortschritte übernehmen.
In jedem Fall ist es in einer humanistischen Vision zwingend erforderlich, die Auswüchse sowie die unvermeidlichen Sackgassen einer sterilisierenden Vision der Innovation und der digitalen Transformation zu reduzieren, die, wenn sie mit Nachdruck oder sogar Zwang durchgesetzt werden, die Qualität der menschlichen Beziehungen nicht fördern oder, schlimmer noch, sogar schädigen würden.
Über den Gesetzgeber hinaus müssen wir uns Mittel und Wege zurechtlegen, um die Einbettung der digitalen Transformation in das Soziale und in die Welt zu entzerren. Denn aufgrund ihrer globalen Auswirkungen darf dieses Gesamtkunstwerk mit seinen großartigen Möglichkeiten nicht auf die schiefe Bahn geraten, indem es sich in eine “totalitäre Praxis” verwandelt.
Innovation ist und muss eine Geisteswissenschaft bleiben.
Artikel ursprünglich erschienen in La Tribune