Wie alle Krisen zwingt uns auch die derzeitige dazu, viele Dinge zu überdenken. Das Ausmaß dieser Krise verlangt, wie nur wenige Krisen zuvor, dass wir die globale Dynamik unserer Aktivitäten ebenfalls überdenken.
Das globale Ausmaß bezüglich Covid-19 haben die Schwächen unserer Gesellschaft und/oder Volkswirtschaften aufgedeckt bzw. deutlich gemacht.
Die neuen Technologien, die durch die digitale Dynamik beflügelt wurden, haben dazu beigetragen, dass die vielen Herausforderungen, Probleme oder Sackgassen in vielen Bereichen anzugehen und zu lösen sind. Diese Situation hat die neu entstehenden Technologien als treibende Kraft bei der Überwindung der Krise in den Vordergrund gerückt, oder zumindest anfangs als Mittel, um die Krise zu bewältigen.
Die Zukunft erfinden, die Welt von morgen erfinden
“Bewältigen” bedeutet, dass Dinge so eingerichtet werden, dass die Kontinuität des Geschäftsbetriebs gewährleistet ist und die Gesellschaft nicht zum Stillstand kommt. Auf einer höheren Ebene bedeutet dies jedoch, dass die Zukunft neu erfunden werden muss. Der unglaubliche Sprung nach vorn, der durch Remote-Work ermöglicht wird, um beispielsweise den Anforderungen der sozialen Distanz gerecht zu werden, hat die Karten für die Unternehmen völlig neu gemischt, indem er die übliche “Arbeit im Büro” zugunsten der virtuellen Geschäftstätigkeit auf den Kopf gestellt hat. Diese Entwicklung hat zweifellos einen neuen, wachsenden Trend eröffnet – um nicht zu sagen, einen überwältigenden Trend in den meisten Branchen. Online-Dienste überflügeln bei weitem die traditionellen Dienstleistungsangebote mit persönlichem Service vor Ort (sowohl am Arbeitsplatz als auch z.B. in Läden vor Ort).
Die Krise hat ein globales Bewusstsein ausgelöst, und Menschen auf der ganzen Welt haben den Ruf nach radikalen Veränderungen gehört. Sie hat allen unmissverständlich vor Augen geführt, welch entscheidende Rolle die Innovation spielt. Innovation ist die Lösung, denn wir stehen vor der Aufgabe, vieles neu zu erfinden, d. h. wir müssen innovativ sein.
Wenn die Innovation gut in die Krise passt, dann deshalb, weil sie von vornherein ein System ist, das alle unsere Gewissheiten in Frage stellt, den Status quo aufbricht, Praktiken revolutioniert und durch leistungsfähigere Prozesse und neue Praktiken ersetzt wird. Kurz gesagt, sie verändert die Dinge.
Schon vor der Krise schien die Innovation die einzige Alternative zu sein, um die Welt von morgen zu erfinden. Eine intelligentere, zuverlässigere, nachhaltigere und frei fließende Welt.
Innovation: eine neue Sichtweise der Grenzüberschreitung
Innovation bedeutet oft, die traditionelle Hackordnung umzukrempeln, neue Prioritäten zu setzen, Prozesse zu überdenken, neue Schemata zu entwerfen und Grenzen zu überwinden. Mit anderen Worten, es geht darum, die Grenzen zu verschieben. Ein guter Slogan für die Innovation könnte lauten: Bahnbrechend vorwärts in unbekanntes Terrain. Die allgemeine Tendenz dieser Dynamik ist die vollständige Integration, wobei sich der Integrationsprozess durch die Verschiebung oder Beseitigung von Grenzen zwischen Bereichen oder Fachgebieten vollzieht, die bis dahin völlig voneinander getrennt waren.
Die ehemals getrennten Bereiche oder Fachgebiete überschneiden sich in erheblichem Maße und sind viel stärker dem ständigen Wandel unterworfen. Die Innovation setzt die Grenzen vieler Bereiche neu und bringt Bereiche zusammen, die vorher nicht miteinander verbunden waren. Produktion und Dienstleistungen zum Beispiel. Zwei sehr unterschiedlich strukturierte Organisationen mit jeweils eigenen Arbeitsweisen. Diese verschmelzen nun zu einer globalen und allumfassenden Geschäftseinheit.
Das Ergebnis dieser Entwicklung ist eine höhere Servicequalität, bessere Leistungsstandards und die Erleichterung mühsamer und anstrengender Arbeit. IoT, KI, maschinelles Lernen, Augmented Reality und die Cloud sind die Schlüsselkomponenten dieser neuen kompetenz- und wissensbasierten Landschaft, in welcher technische Geräte zu Datenemittern werden, die, wenn sie in Echtzeit verarbeitet werden, die Erbringung von Dienstleistungen einer neuen Art ermöglichen. Damit wird das Serviceangebot auf eine neue Ebene gehoben.
Betrachten wir z.B. Aufzüge mit einem Selbstdiagnosesystem, das den Verschleiß misst. Durch das Sammeln und Überwachen von Daten und Statistiken des gleichen Aufzugstyps auf der ganzen Welt werden jetzt automatisch Techniker entsandt, um die Aufzüge rechtzeitig zu warten, bevor sie ausfallen. Eventuelle Störungen werden praktisch vorausgesehen. Auf diese Weise vermeiden wir die kostspieligen Unannehmlichkeiten, die durch nicht funktionierende Aufzüge entstehen.
Dieses Überschneidungsphänomen bestimmt auch neue Ansätze in der Art und Weise, wie wir Angebot und Nachfrage bewerten. Es handelt sich nicht mehr um unterschiedliche Wirtschaftsmodelle, die mehr oder weniger versuchen, ein theoretisches und paralleles operatives Gleichgewicht zu halten. Das Paradigma hat sich umgekehrt, der Endverbraucher steht jetzt im Mittelpunkt des Produktionsprozesses, während er früher nur als einfacher Konsument betrachtet wurde.
Die Nutzererfahrung mit einem Produkt oder einer Dienstleistung (Verbrauchererfahrung) steht im Mittelpunkt des Innovationsprozesses. Die Rückkopplungsschleifen und Big-Data-Verarbeitungszyklen ermöglichen es, dass das “Angebot” in Echtzeit auf die “Nachfrage” trifft, wodurch traditionelle Prozesse in Entwicklung, Herstellung und Vertrieb von Produkten und Dienstleistungen dynamisch unterbrochen werden.
Innovation kann als ein globales Werkzeug, als einen „Game changer“ betrachtet werden. Sie beinhaltet eine Logik der Integration, die Grenzen aufhebt, auch solche, die als undurchdringlich und unerreichbar gelten. In diesem Sinne ist Innovation revolutionär.
Bei der Innovation geht es nicht nur darum, tief verwurzelte Grenzen zu überwinden. Sie hilft dabei, das Konzept der Grenzen neu zu überdenken. In Anlehnung an die mythische Bedeutung der Pionierarbeit jenseits einer bestimmten Grenze ist die Innovation heute diese Grenze: Die neue Grenze.
Einmal exponentiell vervielfältigt, dank der unglaublichen Rechenkapazitäten der heutigen digitalen Technologien, könnten wir uns ohne weiteres auf John Kennedys berühmte Dankesrede von 1960 zum Phänomen der Innovation beziehen, vorausgesetzt, wir beziehen die ökologische Dimension mit ein, die heute von zentraler Bedeutung ist: “But the New Frontier of which I speak […], is here whether we seek it or not“. Jenseits dieser Grenze gibt es unerforschte Gebiete der Wissenschaft und des Weltraums, ungelöste Probleme des Friedens und des Krieges, unbesiegte Probleme der Unwissenheit und der Vorurteile, unbeantwortete Fragen der Armut und des Überflusses”.
Was ist möglich und was ist unmöglich?
Die Innovation verwischt die Grenzen zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen immer weiter und kann so die Welt umgestalten. Diese globale und mächtige Dynamik, die die Technologie in der Vergangenheit nie erreicht hat, verleiht ihr ein unglaubliches Potenzial, den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt voranzutreiben. Die Industrie 4.0 trägt beispielsweise dazu bei, die Voraussetzungen für die Reindustrialisierung oder Re-Lokalisierung Europas zu schaffen, die für diesen Kontinent heute so wichtig ist.
Doch mit der Macht kommt auch große Verantwortung.
Es gibt Risikofaktoren im Zusammenhang mit der Innovation, die, wenn sie unkontrolliert bleibt, zu einer unkontrollierbaren und schädlichen Entwicklung führen, die nicht ignoriert werden darf.
Es bedarf eines rationalen und sachkundigen Ansatzes, der die Innovation als Segen betrachtet, ihr aber keinen Freifahrtschein zum Selbstlauf gewährt. Man muss der Innovation vertrauen, darf ihr aber nicht mit ungebremstem Optimismus oder unproduktiver Skepsis begegnen. Daher muss man wissen, wo man die Grenze zieht, was Innovation umfassen kann und was nicht. Und Innovation im Zaum zu halten, geht alle an – die Tech-Community, die Wirtschaftsakteure und die Politik.
Befasst man sich mit Innovation, muss man sich sowohl mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut machen als auch in unbekanntes Terrain vorstoßen, dessen Grenzen sich ständig verschieben. Wir müssen sicherstellen, dass die komplexen und oft steilen Entwicklungspfade die sie umfasst von einem humanistischen Ansatz und einer Vision durchdrungen wird, die sicherstellen, dass Innovation, wenn sie einen Wert und einen Sinn haben soll, zwingend im Dienste der Menschheit, der Gesellschaft und der Umwelt stehen muss.
Ursprünglich erschienener Artikel in La Tribune